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Appell für Menschlichkeit: Bachs Johannes-Passion

Boutsko Anastassia
28. März 2024

Kein Osterfest ohne die Johannes-Passion: Am Karfreitag 1724 wurde Bachs Meisterwerk uraufgeführt. Es kreist um Liebe und Verrat - und ist heute so aktuell wie vor 300 Jahren.

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 Eine Frau kniet weinend vor einem Kreuz
Ein Mutter trauert am Grab ihres Sohnes in Butscha, Ukraine Bild: Emilio Morenatti/AP/picture alliance

Ein 33-jähriger Mann wird eines Verbrechens beschuldigt, das er nicht begangen hat. Er wird verhaftet, gefoltert und stirbt am Kreuz. Seine Mitmenschen, darunter seine Mutter, müssen die grausamen Qualen mit ansehen und können nichts tun. Dieses schwarze Kapitel in der Geschichte des Christentums wird von einem Zeugen persönlich und eindringlich geschildert: dem Evangelisten Johannes, einem engen Freund des Opfers. Der Ermordete heißt Jesus.

So könnte man das Thema der Johannes-Passion zusammenfassen - jenes Werks von Johann Sebastian Bach, das vielen neben Beethovens Neunter Symphonie als die größte Errungenschaft der europäischen Musik, ja der europäischen Kultur überhaupt gilt.

Michael Maul, junger Mann, Bach-Portrait im Hintergrund
Michael Maul: Bachforscher und FestspielleiterBild: Evgenij Dubnov/DW

"Es sind die zeitlosen Themen, die dieses Werk so aktuell und universell machen", so Michael Maul, Bachforscher und Intendant des Leipziger Bachfestes, zur DW. "Liebe und Mitleid. Der Umgang mit Verrat, mit Trauer. Man muss kein gläubiger Christ oder gar Lutheraner sein, um das zu spüren."

Ostern vor 300 Jahren

7. April 1724, Karfreitag. Es ist das erste Osterfest in Leipzig für den 39-jährigen Komponisten Johann Sebastian Bach. Vor knapp einem Jahr ist er mit seiner zweiten Frau Anna Magdalena und den vier Kindern aus erster Ehe in die sächsische Messestadt gezogen - als Thomaskantor, also als Chef der gesamten städtischen Musik inklusive der 54 Chorknaben der Thomaskirche. Eine nicht immer dankbare Aufgabe.

Für die Leipziger war der Köthener Kapellmeister Bach bei weitem nicht die erste Wahl: "Da man von den Besten keinen bekommen kann, so bleibt nichts anderes übrig, als sich an einen Mittleren zu wenden", hieß es enttäuscht aus dem Rathaus.

Vermutlich ein Bach-Portrait
Jung und ehrgeizig: Ungefähr so konnte Bach ausgesehen haben, als er die "Johannes-Passion" schrieb, hier auf dem Bild eines unbekannten Künstlers aus dem 18.JahrhundertBild: Lehmstedt Verlag

Aber Bach ist ehrgeizig, er will, er muss sich beweisen. Die Karwochen-Musik ist dafür das beste Mittel: Sie ist so etwas wie die Königsdisziplin, das zentrale musikalische Ereignis des Kirchenjahres. Die große Karfreitagsmusik erklingt nach dem "tempus clausum", einer mehrwöchigen musikalischen Abstinenz in der Fastenzeit.

Und es ist das einzige Mal im Jahr, dass der Thomaskantor auf alle musikalischen Kräfte der Stadt zurückgreifen kann, die sonst auf die vier Leipziger Hauptkirchen verteilt sind: nicht nur sämtliche Internatsschüler der Thomaskirche, sondern auch vier Stadtpfeifer und ganze drei Kunstgeiger samt Gesellen.

Es ist aber nicht genug für den Komponisten: Für seine zwei Stunden Musik mit etwa 40 sich abwechselnden Chören, Arien, Rezitativen und Chorälen braucht er noch vier Solisten, zwei Flöten, zwei Oboen, sowie weitere klangschöne Luxusinstrumente wie Oboe da caccia, Viola d'amore oder Laute. Mindestens 15 Musiker insgesamt, dem Chor gehört ein Drittel des Werkes. 

Ein Blockbuster also. 

Reaktionen auf die Johannes-Passion sind nicht überliefert

Doch so detailliert das bürokratische Theater im Vorfeld der Aufführung überliefert ist, so wenig weiß man darüber, wie das Werk seinerzeit bei den Zuhörern ankam. "Wir haben noch nicht den Zeitzeugen gefunden, der wirklich auspackt und aufschreibt, wie er dieses Meisterwerk empfunden hat", bedauert Michael Maul mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Zu bedauern sei auch, dass es damals noch keine Tonaufnahmen gab. "Sonst würde man vielleicht über manches staunen: die Klangästhetik, die Tempi."

Der Innenraum der Nikolaikirche Leipzig von oben fotografiert, die Kirche ist voller Menschen
Nikolaikirche in Leipzig: Hier wurde die "Johannes-Passion" uraufgeführtBild: Gert Mothes/Bach-Archiv

Manch einer mag überwältigt gewesen sein, denn Bachs Musik ist drastisch, dramatisch, fast aggressiv. Man kann auch wohl davon ausgehen, dass die Gemeinde am Ende erschöpft war - denn mit Predigten und anderen "Texteinlagen" dauerte das Ganze fast fünf Stunden. Aber immerhin, da sind sich die Forscher einig, hat kein Handy geklingelt.

Passion in der Corona-Zeit

Es ist wieder Karfreitag in Leipzig  - man schreibt den 10. April 2020, mitten in der Corona-Pandemie. An eine Aufführung der Passionen ist nicht zu denken, nirgendwo auf der Welt. Doch das Bachfest Leipzig schreibt Geschichte: Mit einer kleinen Gruppe kreativer Köpfe entwickelt es ein einzigartiges Kunstprojekt. Zur Todesstunde Jesu, um 15 Uhr, erklingt an Bachs Grab in der Thomaskirche eine Fassung der Johannes-Passion, die gerade mal von drei Künstlern umgesetzt wird.

Im Mittelpunkt stehen der Schlagzeuger Philipp Lamprecht, die Cembalistin Elina Albach und der Tenor Benedikt Kristjánsson, der Bachs Werk weitgehend als One-Man-Show präsentiert. In dieser reduzierten Form verliert Bachs Musik mitunter an Farbigkeit, dafür kommt die Botschaft der Passionen umso drastischer und klarer zur Geltung. Mit von der Partie ist Steven Walter, der designierte Intendant des Beethovenfestes Bonn, von dem die Idee der Passion als Trio stammt. 

Elina Albach, Cembalistin, junge Frau auf der Bühne
Multiinstrumentalistin im Dienste Bachs: Elina Albach bei der Aufführung der "Johannes-Passion"Bild: Elina Albach; Cembalistin; Musikerin; Musik

Die Aufführung wird live gestreamt, die weltweite Bach-Gemeinde ist zum Mitsingen eingeladen. Das Video wird millionenfach angeklickt.

Johannes-Passion als Live-Ticker

Mehr als 50 Mal wurde das Erfolgsprojekt seither an verschiedenen Orten aufgeführt. "Ich finde, die Johannes-Passion ist tatsächlich immer noch ein Werk, das uns auch 300 Jahre nach der Uraufführung unglaublich viel zu erzählen hat, und sie klingt jedes Mal anders", sagt Elina Albach im Gespräch mit der DW. "Bei jeder Aufführung, bei jedem Konzert haben wir das Gefühl, die Geschichte neu zu erzählen."

So war es auch in der Passionszeit 2022, als die Bilder aus dem ukrainischen Butscha die Welt erschütterten. "An diesem Tag haben wir die Johannespassion gespielt", erinnert sich Albach. "Und plötzlich klangen die Rezitative und Kreuzigungstexte wie Zeitungsmeldungen oder Nachrichten, die uns aus der Ukraine sozusagen live im Ticker erreichten..."

"Bach entlarvt, Bach klagt an, aber Bach tröstet auch", sagt die Musikwissenschaftlerin Particia Siegert. Und: "Er hält uns allen einen Spiegel vor, voller Nachdenklichkeit über Verantwortung, Liebe, Leben und Tod."

Michael Maul erklärt: "Wer war Bach?"