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PolitikSyrien

Syrien: Tödliche Drohnen bedrohen Zivilisten

Jennifer Holleis | Omar Albam
27. März 2024

In Syrien greifen Regierungstruppen und ihre Verbündeten Zivilisten in sogenannten Rebellengebieten mit bewaffneten Drohnen an. Es sind Angriffe auf das Leben und die Lebensgrundlagen der betroffenen Menschen.

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Ein Mann vor seinem zerstörten Haus im Nordwesten Syriens
Im Visier bewaffneter Drohnen: Bauern und andere Zivilisten im Nordwesten Syriens Bild: Omar Albam/DW

Das Summen kam wie aus dem Nichts. "Ich wollte gerade das Mittagessen für meine Frau und meine Kinder holen, als ich bemerkte, wie mich eine bewaffnete Drohne auf meinem Motorrad verfolgte", berichtet Mohammad Zakaria Junaidi der DW. 

Er habe geglaubt, dass er und seine beiden Söhne in diesem Moment sterben müssten, so der Bauer aus dem Nordwesten Syriens weiter. "Auf der Straße zwischen den Feldern und dem Dorf gab es keinen Ort, an dem ich mich hätte verstecken können."

Um zu entkommen, habe er sein Motorrad beschleunigt und sei in einen Feldweg abgebogen. "Für ein paar Sekunden verlor die Drohne unsere Spur. Doch kaum hatte sie uns wieder entdeckt, explodierte sie." Er und seine beiden Kinder seien durch umherfliegende Granatsplitter verletzt worden, berichtet Junaidi.

Junaidis Felder liegen in der Ortschaft Al-Nayrab, östlich von Idlib, der letzten großen Hochburg der oppositionellen Syrischen Nationalarmee und vor allem der mächtigen Dschihadistenmiliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS).

"Im Nordwesten Syriens nehmen die Regierungstruppen die HTS ins Visier. Sie glauben, sich dadurch taktische Vorteile verschaffen zu können", sagt Nanar Hawach, Syrien-Analyst beim Think Tank International Crisis Group, im DW-Gespräch.

Diese Drohnen könnten bis zu zwei Kilo Sprengstoff tragen. Damit haben sie zwar noch kein militärisches Niveau erreicht, sind aber ein preiswertes und leicht erhältliches Instrument, um kleinere Gruppen, Fahrzeuge und Nachschubrouten zielgenau anzugreifen. "Einige dieser Drohnen werden in Syrien selbst hergestellt", so Hawach.

Wurden durch eine Drohne verwundet: Bauer Muhammad Zakaria Junaidi und sein Sohn
Wurden durch eine Drohne verwundet: Bauer Muhammad Zakaria Junaidi und sein SohnBild: Omar Albam/DW

Attacken auf Lebensgrundlagen

Unter den Drohnenangriffen leiden seit einigen Monaten jedoch zunehmend auch Zivilisten. "Das syrische Regime und seine russischen und iranischen Unterstützer setzen verstärkt Selbstmorddrohnen in jenen Gebieten ein, die für die Landwirtschaft von zentraler Bedeutung sind", sagt Kelly Petillo, Nahost-Forscherin beim European Council on Foreign Relations, der DW. Zu diesen Gebieten zählten etwa Hama, Idlib und Aleppo.

"Die Regierungstruppen versuchen, die Lebensgrundlagen der Zivilbevölkerung in den nicht vom Regime kontrollierten Gebieten zu bedrohen", so Petillo. "Diese Taktik fordert einen hohen menschlichen Tribut. Seit Anfang des Jahres haben lokale Gruppen rund 140 Angriffe dieser Art gemeldet."

Die Angriffe könnten einen Verstoß gegen das Kriegsrecht und damit einen zentralen Bestandteil des Völkerrechts darstellen, so Hiba Zayadin, Nahost-Expertin bei der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch.

"Die Kriegsgesetzgebung verbietet Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte und verlangt von den Konfliktparteien, jederzeit zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen zu unterscheiden", so Zayadin zur DW.

Paulo Pinheiro, Vorsitzender der UN-Untersuchungskommission für Syrien, berichtete im März von einer " zunehmenden Gesetzlosigkeit" in der Region. Diese begünstige räuberische Praktiken und Erpressung durch bewaffnete Kräfte und Milizen. 

Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung in den sogenannten Rebellengebieten leben heute in Armut. Über 16,7 Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen.  

Drohnenangriffe markieren Wendepunkt

Trotz der katastrophalen, durch das verheerende Erdbeben im Februar 2023 zusätzlich verschärften Lage gehen Beobachter und Menschenrechtler davon aus, dass bewaffnete Drohnen künftig noch häufiger gezielt gegen Zivilisten eingesetzt werden. 

"Der syrische Bürgerkrieg zeichnet sich dadurch aus, dass die meisten beteiligten Akteure das Leben von Zivilisten missachten", so Syrien-Experte Hawach von der International Crisis Group.

Die syrischen Regierungstruppen und die vom Iran unterstützten Gruppen seien nicht die einzigen Kriegsparteien, die Drohnen von nicht-militärischer Qualität einsetzten - auch ihre Kriegsgegner täten dies zum Teil. 

"Auch die HTS-Milizen haben solche Drohnen bei ihren Operationen eingesetzt. Generell nutzten die in Syrien aktiven Akteure diese Technologie ebenso zur Aufklärung wie zum Angriff."

Darüber hinaus sieht Hawach in der zunehmenden Präsenz bewaffneter Drohnen einen Wendepunkt in der aktuellen Konfliktdynamik in Syrien.

"Der Iran hat Russland während des Ukraine-Krieges mit Drohnen beliefert. Da sowohl Russland als auch der Iran die syrischen Regierungstruppen unterstützen, war es nur eine Frage der Zeit, bis Drohnen auch von diesen selbst eingesetzt wurden", so Hawach. Russland sei zwar weiterhin in Syrien präsent, doch seien die russischen Luftangriffe seit Beginn des Ukraine-Krieges deutlich zurückgegangen.

Nun deute der verstärkte Einsatz von Drohnen durch die Regierungstruppen darauf hin, dass diese versuchten, den Verlust an verbündeten russischen Luftstreitkräften zu kompensieren und sich taktische Vorteile zu verschaffen.

Nach 13 Jahren Krieg weitgehend zerstört: die Ortschaft Al-Nayrab im Nordwesten Syriens
Nach 13 Jahren Krieg weitgehend zerstört: die Ortschaft Al-Nayrab im Nordwesten SyriensBild: Omar Albam/DW

Schwerwiegende Auswirkungen

Die neue Kriegführung dürfte für die Bauern im Nordwesten Syriens auch wirtschaftlich schwerwiegende Folgen haben, befürchten Experten. "Sie bedroht nicht nur die Lebensgrundlage der örtlichen Bauern, die nun Drohnenangriffe fürchten müssen, während sie ihre Felder bestellen. Sie untergräbt auch einen wichtigen Wirtschaftszweig in der Region", sagt Nanar Hawach. 

Mohammad Zakaria Junaidi hat bereits auf die Angriffe reagiert. Der Bauer hat beschlossen, vorerst nicht auf seine Felder zurückzukehren, auch wenn dies den Verlust der Ernte bedeutet. Die Entscheidung fiel Junaidi nicht leicht. Aber er habe keine Alternative, sagt er: "Was nützt die Ernte, wenn ich eines meiner Kinder verliere?"

Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.

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